Berlin am 29.09.2020: Im Bild ist das illuminierte Brandenburger Tor im Thema des 30-jährigen Jahrestages der Wiedervereinigung zu sehen. (imago images / Christian Spicker)
THEMEN >> Themenmodul II – Modul 8
Jedes Jahr am 3. Oktober feiern wir den Tag der Deutschen Einheit. Es wird an die deutsche Teilung erinnert, den Mut der Montagsdemonstrant*innen und daran, dass West- und Ostdeutsche nach vierzig Jahren Teilung wieder zueinandergefunden haben. Für Ausländer*innen oder Einwander*innen und deren Nachkommen waren die Jahre 1989/1990 jedoch nicht immer nur ein Grund zum Feiern. Rassistische Ereignisse rund um die Wiedervereinigung prägten ihre Sicht auf die Einheit. Viele zweifelten daran, ob in diesem neuen Deutschland auch ein Platz für sie ist. Doch dieser Teil der Geschichte findet in den meisten Erfolgserzählungen vom Mauerfall selten seinen Platz. Es stellt sich die Frage, wie wir eine vielfältige Erinnerung an die Wiedervereinigung entwickeln, die alle Menschen – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – berücksichtigt.
Der Tag der Deutschen Einheit ist nicht mein Tag
Die Erfahrung vieler Einwander*innen in der Bundesrepublik im Zuge des Mauerfalls – Arbeitslosigkeit, Rassismus und ein Ausschließen aus der „deutschen“ Gesellschaft – ließ den Blick und die Erinnerungen auf den Mauerfall oftmals anders ausfallen als bei den meisten Deutschen. Martin Hyun, koreanischstämmiger Politikwissenschaftler, berichtet 2012 in einem Artikel:
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Martin Hyun, Politologe und Eishockey-Spieler, wurde 1979 in Krefeld geboren. Hyun ist Sohn koreanischer Gastarbeiter und war der erste koreanischstämmige Bundesliga-Profi in der Deutschen Eishockey Liga sowie Junioren Nationalspieler Deutschlands. Seit 1993 ist er deutscher Staatsbürger und lebt in Berlin.
„Am Tag der Deutschen Einheit ist mir nicht zum Feiern zumute. Ich bin deutscher Staatsbürger. Doch mit diesem Tag habe ich nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil, er hält mir vor Augen, wie groß die Diskrepanz zwischen den Einheimischen und den Menschen mit Migrationshintergrund geworden ist. Denn sie, die einstigen Gastarbeiter und deren Nachfahren, sind noch immer nicht zusammengewachsen mit dem, was zusammengehört. Und solange die Geschichte der Gastarbeiter im nationalen Gedächtnis keine Rolle spielt, als Geschichte der jeweiligen Entsendungsländer abgetan wird und eben nicht als ‚deutsche Geschichte‘ angesehen wird, solange wird der dritte Oktober nicht mein Tag der Deutschen Einheit sein. Die Landschaften blühen zwar, aber mittendrin wuchsen Fremdenhass und Naziterror. Als Asylantenheime angezündet und ausländische Mitbürger gemobbt oder getötet wurden, versprach die Gesellschaft – und allen voran die Politik – Besserung. Doch sie blieb aus. Rassismus, Xenophobie und Diskriminierung sind omnipräsent und stärker wie je zuvor. […] Der dritte Oktober ist nicht mein Tag und mir ist nicht zum Feiern zumute, weil er mich daran erinnert, wie unterschiedlich die Interessen, wie hartnäckig die Ungleichheit, wie alltäglich die Diskriminierung in Deutschland ist.“
Martin Hyun: „Nicht mein Tag der Deutschen Einheit“ Beitrag auf Deutschlandfunk Kultur (02.10.2012).
Verkorkste Erinnerungskultur ‒ eure Einheit, unser Albtraum
Die Journalistin Ferda Ataman verfasste zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls einen Artikel, in dem sie die bisherige „deutsche“ Erinnerungskultur an den Mauerfall verurteilt. Sie fordert eine neue Erinnerungskultur, die alle Menschen in Deutschland, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, miteinbezieht.
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Wenn nächsten Monat 30 Jahre Mauerfall zelebriert werden, dann werden wieder alle so tun, als sei das eine Wiedervereinigung von weißen Westdeutschen mit weißen Ostdeutschen gewesen. Juhu, Party! Ach, wie war das schön! Endlich wuchs zusammen, „was zusammengehört“. […] Die postmigrantische Erinnerung an die Einheit geht so:
Für uns, im Westen, waren die Ostdeutschen die neuen Einwanderer. Auf der Suche nach einem besseren Leben kamen haufenweise Menschen mit Zonenhintergrund in unsere Städte. Ja: in unsere. Wir waren schließlich länger da. […] Wir waren die Aufnahmegesellschaft.
Das sahen natürlich nicht alle so. Nach den Freudentränen entpuppte sich die Wende für Ausländer und People of Color als Zeit der Abwertung – egal ob in den neuen oder alten Bundesländern. Wir rutschten in der Hackordnung weiter nach unten. Jetzt sollten die „Gäste“ wieder gehen. Viele bekamen im Alltag zu spüren, dass sie nicht mehr erwünscht waren. Danke, aber wir brauchen euch nicht mehr.
Aus „Wir sind das Volk“ wurde „Wir sind ein Volk“. Diese Wendeparole hat es in sich. Denn in diesem „Wir“ hatten die Ausländer nichts verloren, […]. Die „Herstellung der Einheit Deutschlands“, die vertraglich zwischen der DDR und BRD geregelt wurde, verstanden viele als Einheit des deutschen Volkes. […]
Die Nachwendezeit hat sich in das kollektive migrantische Bewusstsein eingebrannt. Und es sind keine schönen Erinnerungen. Für uns hat die Einheit einen üblen, völkischen Beigeschmack. Die Verlierer im vereinten Vaterland, das sind bis heute die Kanaken.
Bestimmt werden sich einige wundern oder ärgern, warum ich ihnen den schönen, deutschen Feiertag vermiesen will. Aber die Wahrheit ist: Die Einheit wurde glattgebügelt. […]
Bisher dreht sich in unserer Geschichtsbetrachtung alles nur um die Ureinwohner, als wäre Deutschland ein Germanenreservat. Warum haben wir keine Erinnerungskultur, die die Vielfalt der Bevölkerung aufrichtig anerkennt und würdigt? Wo bleiben die Perspektiven der wiedervereinten, postmigrantischen Gesellschaft in unseren Schulbüchern und Museen, bei Denkmälern, Feiertagen und Straßennamen?
Ferda Ataman: Verkorkste Erinnerungskultur. Eure Einheit, unser Albtraum, 03.10.2019 (Quelle)
„Wir sind das Volk“ …
Viele kennen den in der DDR-Bürgerrechtsbewegung entstandenen politischen Slogan „Wir sind das Volk“. Heute ist der Slogan auch auf Demonstrationen von rechtsextremen und rassistischen Bewegungen zu hören. Sie nutzen die Bezeichnung „Volk“ um vermeintlich „andere“ Menschen, die ihrer Meinung nach nicht zum „Volk“ gehören, auszugrenzen.
Doch wer war eigentlich 1989 mit „Volk“ gemeint und wie steht es heute um diesen zentralen Slogan deutscher Erinnerungskultur?
Ursprünglich war mit dem Slogan keineswegs das „Volk“ in einem ethnischen Sinn gemeint. Der Ausruf wurde zum Slogan, als die Leipziger Polizei einen Demonstrationszug auflösen wollte und dabei ihre Lautsprecherdurchsagen mit „Hier spricht die Volkspolizei …“ einleitete. Daraufhin kam aus den Reihen der Demonstrant*innen spontan die Antwort: „Wir sind das Volk.“ Damit sollte die Polizei und die SED daran erinnert werden, dass die Bevölkerung der DDR sich nicht länger unterdrücken lässt.
Appell der Leipziger Menschenrechtsgruppen an Demonstrant*innen und Polizei
Auf einem Flugblatt, das auf der Montagsdemonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 verteilt wurde, richten sich die Demonstrierenden an die Polizei:
A P P E L L
In den letzten Wochen ist es mehrfach und in verschiedenen Städten der DDR zu Demonstrationen gekommen, die in Gewalt mündeten: Pflastersteinwürfe, zerschlagene Scheiben, ausgebrannte Autos, Gummiknüppel- und Wasserwerfereinsatz. Es gab eine unbekannte Zahl Verletzter, von Toten ist die Rede.
Auch der letzte Montag in Leipzig endete mit Gewalt. Wir haben Angst. Angst um uns selbst, Angst um unsere Freunde, um den Menschen neben uns und Angst um den, der uns da in Uniform gegenübersteht. Wir haben Angst um die Zukunft unseres Landes.
Gewalt schafft immer wieder Gewalt. Gewalt löst keine Probleme. Gewalt ist unmenschlich. Gewalt kann nicht das Zeichen einer neuen, besseren Gesellschaft sein.
Wir bitten alle:
– Enthaltet Euch jeder Gewalt !
– Durchbrecht keine Polizeiketten, haltet Abstand zu Absperrungen !
– Greift keine Personen oder Fahrzeuge an !
– Entwendet keine Kleidungs- oder Ausrüstungsgegenstände der Einsatzkräfte !
– Werft keine Gegenstände und enthaltet Euch gewalttätiger Parolen!
– Seid solidarisch und unterbindet Provokationen !
– Greift zu friedlichen und phantasievollen Formen des Protestes
An die Einsatzkräfte appellieren wir:
– Enthaltet Euch der Gewalt !
– Reagiert auf Friedfertigkeit nicht mit Gewalt !
W I R S I N D E I N V O L K !
Gewalt unter uns hinterläßt ewig blutende Wunden !
Für die entstandene ernste Situation müssen vor allem Partei und Regierung verantwortlich gemacht werden. Aber h e u t e ist es an uns, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern. Davon hängt unsere Zukunft ab.
Leipzig, den 9. Oktober 1989
(Quelle: Auszug aus: Leipziger Oppositionsgruppen appellieren am 9. Oktober 1989 an alle Demonstranten und Einsatzkräfte, sich friedlich zu verhalten. Robert-Havemann-Gesellschaft/ RG/S O1/02.)
„Wir sind ein Volk“ …
Auch der zweite in der Erinnerung an die Deutsche Einheit präsente Slogan „Wir sind ein Volk!“ meinte in seiner ursprünglichen Verwendung noch nicht die nationale Einheit von West- und Ostdeutschen als ein deutsches Volk. Vielmehr war er ein Appell an die Polizisten und Soldaten des DDR-Regimes, die man so als Mitbürger ansprach und zum Gewaltverzicht aufforderte.
Erst im Laufe der Jahre 1989/1990, nachdem die Tageszeitung BILD und weitere westdeutsche Medien den Spruch aufgriffen und als Wunsch der Demonstrant*innen nach der Wiedervereinigung deuteten, verschob sich die Bedeutung von „Wir sind ein Volk!“ ins Nationale – hin zur Forderung einer Wiedervereinigung des gesamten deutschen Volkes.
Wahlplakat der CDU aus dem letzten Volkskammerwahlkampf der DDR vom 18. März 1990. (Bild: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP) / CC-BY-SA 3.0 )
1990 Berlin – auf einer Demonstration gegen die geplante Änderung des Ausländergesetzes hält ein junger Mann ein selbst gemaltes Schild in die Höhe: „AUCH WIR SIND DAS VOLK“. Entstanden ist ein Foto, das bis heute als Ikone gelten könnte für ein verdrängtes Kapitel der deutschen Vereinigung: die Folgen des Mauerfalls für die Einwander*innen in Ost und West. (akg-images / picture-alliance / ZB / Reinhard Kaufhold)
„Wir sind auch das Volk“ …
Die Wiedervereinigung war von einem Gefühl des gemeinsamen „Deutschseins“ geprägt. Der ursprünglich auf den Montagsdemonstrationen an die Polizei gerichtete Slogan „Wir sind ein Volk“ wurde schnell zum Ausdruck dieses nationalen Gefühls: Trotz der langen Teilung gehörten beide Deutschlands zusammen. Nicht mehr „ostdeutsch“, nicht mehr „westdeutsch“, sondern „gesamtdeutsch“.
Die Orientierung auf das vermeintlich „Deutsche“ und die „nationale Einheit“ verstärkte jedoch auch den Rassismus gegenüber Menschen, die als „nichtdeutsch“ angesehen wurden. Für viele Ausländer*innen und Einwander*innen sowie deren Nachkommen brachte die deutsche Einheit daher auch ein Gefühl des Nichtdazugehörens mit sich.
„Wir sind eine Bevölkerung“ statt „Wir sind ein Volk“?
Die Migrationsforscherin Nevim Çil kritisiert, wie der Slogan „Wir sind das Volk“ in der deutschen Erinnerungskultur verstanden wird. Sie spricht von einer „Revitalisierung des Nationalgefühls“, das im Zuge der Einheit stattgefunden hätte und das negative Folgen für „nichtdeutsche“ Menschen gehabt hätte.
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„Wenn von der gesellschaftlichen Umbruchphase 1989 die Rede ist, dominiert stets eine deutsch-deutsche Perspektive. […] Dabei ist der Zusammenhang zwischen der neuen gesellschaftlichen Konstellation, die durch Mauerfall und Wiedervereinigung ausgelöst wurde, und der Neuverortung von Migranten nach 1989 ausschlaggebend, um nicht nur deren vergangene, sondern auch die gegenwärtige Situation zu verstehen. […]
In der Zeit der Wende und in den Folgejahren war der gesellschaftliche Raum geprägt von einer Revitalisierung des Nationalgefühls, das in seinen Auswüchsen zu einer Reduzierung der Einwohner Deutschlands auf Ethnie und Herkunft führte. […] Migranten reagierten nicht mehr als werdende Deutsche, sondern als Außenseiter. […] Gehört es zu einer Demokratie, dass der Freudentaumel über den Mauerfall und die Wiedervereinigung in eine Nationalisierung der Gesellschaft umschlägt und somit Teile der Bevölkerung zur Zielscheibe macht? Oder ist es ein notwendiges Übel, dass der Demokratisierungsprozess in Deutschland auch den „Anderen“ geschaffen hat, um ihn von den gesellschaftlichen Errungenschaften auszuschließen? […]
Diese Fragen deuten nicht nur auf die Stellung von Migranten hin, sondern auch auf das Selbstverständnis der Gesellschaft. Deren Beschaffenheit hängt auch davon ab, ob Geschichten von Migranten als eine Geschichte des Landes oder als eine Sondergeschichte aufgefasst werden. „Wir sind ein Volk“ – dieser Wiedervereinigungssatz wäre mit einem Selbstverständnis, das fern von einer Wiederentdeckung des Nationalen entwickelt worden wäre, anders gedeutet worden – nämlich als „Wir sind eine Bevölkerung“.
(Quelle: Nevim Çil, Parallelgeschichten. Migranten im Wiedervereinigten Deutschland, in: Goethe-Institut e. V. (Hg.), Mauerfälle. 1989 und die Folgen (= Fikrun wa Fann, Dezember 2009), zuletzt aufgerufen am 25. Oktober 2020: http://www.goethe.de/ges/phi/prj/ffs/the/mau/de5445761.htm)
Ein neues „Wir“?
Der Historiker Jan Plamper erzählt in seinem Buch Das neue Wir. Warum Migration dazugehört (Eine andere Geschichte der Deutschen) die Geschichte Deutschlands anhand von Migrationsbewegungen. Es ist die Geschichte von Heimatvertriebenen, Gast- und Vertragsarbeitenden, (Spät-)Aussiedler*innen und Geflüchteten. Angesichts dieser Vielfalt begibt er sich auf die Suche nach einem neuen deutschen „Wir“, dessen Bedeutung die Gesellschaft gemeinsam und auf demokratischem Weg aushandeln sollte.
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„Zusammengenommen ergeben die Geschichten von ihnen [den Migrant*innen, deren Geschichte Plamper erzählt] und jenen, die schon länger da sind, die Geschichte der Deutschen: das neue Wir. Das neue Wir ist aber auch der Vorschlag einer nationalen Kollektividentität. Warum brauchen wir eine solche Identität? Reicht nicht das Grundgesetz als über die Staatsbürgerschaft hinausgehende Klammer?
[…] Ich halte die bisherigen Definitionen von Zugehörigkeit für unzulänglich. Ich bin der Überzeugung, dass wir eine kollektive Identität brauchen, die eine stärkere emotionale Bindefestigkeit besitzt als die Liebe zum Grundgesetz oder eine Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Aufsteigermentalität. […] Die einen nennen diese kollektive Identität mit dem Mehr an emotionalem Kitt schlicht Patriotismus (ohne Zusätze wie Verfassungspatriotismus), andere Heimat und wiederum andere Leitkultur. Ich teile manches mit den Befürwortern dieser drei Konzepte, bin aber der Meinung, dass wir mit einem unverbrauchten Begriff besser fahren. Denn ob man nun von Patriotismus, Heimat oder Leitkultur spricht, diese Begriffe sind allesamt besetzt, vor allem von rechts.
[…] Vielmehr muss die nationale Kollektividentität, das neue Wir, auf demokratischem Weg und den historischen Umständen entsprechend immer wieder neu definiert werden. Die kollektive Identität der deutschen Nation kann also nicht ein für alle Mal fixiert werden, denn die deutsche [Identität] befindet sich wie jede Gesellschaft in einem dauernden Prozess der Veränderung. Die Inhalte des Wir müssen im Rahmen des Grundgesetztes über demokratische Entscheidungsfindung bestimmt werden: Gesetzesinitiativen, Bundestagsdebatten, Ausschüsse, Kommissionen, Wettbewerbe.“
(Quelle: Jan Plamper, Das neue Wir. Warum Migration dazugehört. Eine andere Geschichte der Deutschen, Frankfurt a. M 2019, S. 318, S. 319f., S. 322.)
„Was bedeutet Deutschsein?“
Als Reaktion auf rassistische Ausschreitungen in Sachsen im Frühjahr 2016 veröffentlichte der Satiriker Jan Böhmermann ein Musikvideo mit dem Titel „BE DEUTSCH“ zum Thema „Was bedeutet Deutschsein?“. Hintergrund waren die „Wir sind das Volk“-Rufe einer aufgebrachten Menschenmenge, die einen Bus mit Flüchtlingen bedroht hatte. Darin entwirft Böhmermann das Bild einer vielfältigen Gesellschaft mit Menschen unterschiedlichster Herkunft, Hautfarbe oder Einstellung.
„Typisch deutsch – was bedeutet das eigentlich?“
Typisch Deutsch – was bedeutet das überhaupt? Immer wieder wird darüber diskutiert, was eigentlich „Typisch Deutsch“ ist. Die Fachkommission Integrationsfähigkeit wurde 2015 von der Bundesregierung damit beauftragt, Konzepte zu erarbeiten, mit denen gemeinsam die Einwanderungsgesellschaft Deutschlands gestaltet werden soll. Einen kurzen Einblick in das Thema Integration und Deutschsein im 21. Jahrhundert gibt die Fachkommissionsangehörige Viola Georgi. Zur Website der Fachkommission Integrationsfähigkeit
Das Mauerbild „Es gilt viele Mauern abzubauen“ von Ines Bayer und Raik Hönemann an der 1,3 km langen East Side Gallery in Berlin-Friedrichshain. (imago images / Travel-Stock-Image)
Wir sind ein „deutsches“ Volk ?
Brauchen wir einen Tag der deutschen Vielfalt?
Die „Neuen Deutschen Organisationen“ sind ein „postmigrantisches“ Netzwerk von mehr als 120 Initiativen, die sich bundesweit für Vielfalt in der deutschen Gesellschaft und gleichberechtigte Teilhabe von Einwander*innen und deren Nachkommen einsetzen. Dabei kritisieren sie, dass bis heute am Tag der Deutschen Einheit migrantische Perspektiven außen vor bleiben. Deshalb fordern sie als Ergänzung einen „Tag der deutschen Vielfalt“.
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„Deutschland war es vor der Wende und ist es nach der Wende geblieben: Die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland. Menschen aus Einwandererfamilien leben in Ost und West, viele haben die Teilung und Wiedervereinigung miterlebt und mitgefeiert.
Es ist wichtig, dass die Wiedervereinigung jedes Jahr symbolisch gefeiert wird. Doch die deutsche Einheit wird üblicherweise aus einer rein „weißen“ Sicht betrachtet – deutschdeutsche Ostdeutsche wiedervereint mit deutschdeutschen Westdeutschen. Dass aber auf beiden Seiten viele Bindestrichdeutsche, also Menschen mit Migrationshintergrund dabei waren, wird meist vernachlässigt. Vergessen wird oft auch, dass die Wiedervereinigung für einen Teil unsere Gesellschaft mit rassistischen Erfahrungen einherging. Und: Bei einem großen Teil der ostdeutschen Bevölkerung gab es Entfremdungs- und Stigmatisierungserfahrungen. Diese Einheit bleibt unvollendet, wenn diese Geschichten nicht erzählt werden.
Ebenso wie das vereinte Deutschland braucht auch die Einwanderungsgesellschaft einen symbolischen Akt, der alle Gruppen anspricht und einbindet. Wir brauchen einen „Tag der deutschen Vielfalt“ – als Anerkennung der gesellschaftlichen Vielfalt in unserem Land. Denn es ist doch genau diese Vielfalt, die uns eint. Dabei geht es nicht um Minderheiten: mittlerweile haben 20 Millionen Menschen einen Migrationshintergrund. Dieses Land ist ihre Heimat geworden. Und die meisten Menschen in Deutschland finden das gut. Eine Mehrheit nimmt das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft als etwas Positives wahr, wie der kürzlich erschienene Integrationsmonitor des „Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration“ zeigt.
Dieser Umstand sollte in einem „Tag der deutschen Vielfalt“ gewürdigt werden. Es wäre eine Chance unserer Gesellschaft ein positives Selbstbild zu geben, nach dem Motto: Wir stehen ein für eine plurale Republik, in der nicht Herkunft oder Aussehen entscheiden, wer dazu gehört. Der Tag würde uns die Gelegenheit geben, darüber nachzudenken, wer wir als Gesellschaft sind und wie wir in dieser Gesellschaft zusammenleben wollen. Ein Tag der Vielfalt bedeutet einen Raum der Identifikation zu schaffen und in einen Dialog zu treten. Gerade in Zeiten in denen völkisch-nationale Kräfte wieder Mauern bauen, braucht es eine starke Symbolik für Vielfalt.“
(Quelle: https://neuedeutsche.org/de/artikel/warum-nicht-auch-einen-tag-der-deutschen-vielfalt/)
Postmigrantisch
Der Begriff postmigrantisch (lateinisch post = nach/hinter) steht für die Bestrebung, die Unterscheidung von Migrant*innen und Mehrheitsgesellschaft hinter sich zu lassen (z. B. wenn wie im heutigen Deutschland keine Minderheit im engeren Sinne, sondern 20 Millionen – ein Viertel der Gesamtbevölkerung – einen Migrationshintergrund haben). Eine postmigrantische Gesellschaft ist durch die Erfahrung der Migration geprägt und erkennt an, ein Einwanderungsland zu sein.
„Wir leben in einem migrationspolitischen Entwicklungsland.“
In einem Interview spricht der Kultur- und Politikwissenschaftler Dr. Kien Nghi Ha über das Thema Integration in Deutschland. Wie sehen sich Menschen mit Migrationshintergrund heute in Deutschland?
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„29 Prozent der Deutschen haben türkische Nachbarn, das Gefühl von Fremdheit ist den meisten geblieben. Heute, nach 50 Jahren Migration der Türken nach Deutschland stelle ich fest, dass sie mittlerweile ein eigenes Selbstverständnis entwickelt haben, wobei sie der deutschen Gesellschaft aufgeschlossen gegenüberstehen. Sie haben eine eigene Identität hervorgerufen, die über ihre türkischen Wurzeln hinausgeht. Ihre Großeltern waren Gastarbeiter, ihre Eltern Migranten; heute verstehen sie sich als Deutschtürken. Sie verstehen sich als Teil dieser Gesellschaft. Bester Beweis dafür waren die tausenden deutschen Flaggen an ihren Balkonen während der letzten Fußballweltmeisterschaft. Nach einem Fußballsieg der deutschen Nationalmannschaft schmückten zehntausende junge Deutschtürken mit ihren deutschen Fahnen an ihren Autos die deutschen Straßen! Diese jungen Deutschtürken setzen sich differenziert mit den Werten und Normen ihrer Elterngeneration auseinander. Die Traditionen und Kulturelemente werden dann akzeptiert, wenn sie zur eigenen Lebensplanung in der deutschen Gesellschaft passen. Die politischen Dramatisierungen über Parallelgesellschaften schaffen unnötig Probleme. Es gibt sicherlich Schwierigkeiten, Konflikte und manche Probleme der Integration. Es gibt jedoch auch millionenfach gelebte und täglich gelungene Integration in Schulen, Betriebsstätten, Stadtteilen und auf Sportplätzen.“
Quelle: https://www.migazin.de/2013/04/12/frueher-war-es-mir-auch-wichtig-bloss-kein-chinese-zu-sein/2/
Was geht mich das an? Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft
Der Politiker Cem Özdemir fordert ein Umdenken der Erinnerungskultur in Deutschland und macht dies am Beispiel des Holocaust deutlich:
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Ziel muss es aber ebenso sein, dass MigrantInnen und ihre Nachkommen sich so akzeptiert und angekommen fühlen, dass sie die deutsche Geschichte und die damit einhergehende Verantwortung für sich übernehmen. Wir dürfen Einwandererfamilien nicht länger so behandeln als wären sie nur zu Besuch und ›eigentlich‹ woanders zuhause. Die Erinnerung an den Holocaust ist ein gemeinschaftliches Projekt, an dem wir alle beteiligt sind. Wenn Menschen, die ein Teil unserer Gesellschaft sind – ob deutscher oder anderer Herkunft –, antisemitische Vorurteile haben, dann ist das keine von der Mehrheitsgesellschaft abgerückte Angelegenheit. Dann ist es unser aller Problem. Nur gemeinsam können wir die Zukunft so gestalten, dass ein solch grausamer Zivilisationsbruch nie wieder passiert, nirgendwo. Jede Generation muss das immer wieder von neuem tun.
(Cem Özdemir: „Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten“, herausgegeben von Harald Roth, Pantheon Verlag, München 2014. Online unter: https://www.oezdemir.de/themen/erinnerungskultur-in-der-einwanderungsgesellschaft/ . Letzter Zugriff: 18.11.2020)
Bevölkerung in Deutschland
Im Jahr 2019 lebten mehr als 81 Millionen Menschen in Deutschland. Jeder Vierte hat einen Migrationshintergrund. Von allen Personen mit Migrationshintergrund sind knapp zwei Drittel selbst eingewandert und gut ein Drittel ist in Deutschland geboren (64,4 bzw. 35,6 Prozent). Etwas mehr als die Hälfte der Personen mit Migrationshintergrund besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft (52,4 Prozent). Mittelfristig wird sich der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund weiter erhöhen: 2019 hatten 40,4 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren einen Migrationshintergrund.
Ausländer*innen
Offiziell sind aus rechtlicher Sicht alle Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben und keine deutsche Staatsbürgerschaft haben, Ausländer. Egal aus welchem Land sie kommen. Deutschsein wird juristisch also am Staatsbürgerrecht festgemacht. Wenn jemand die deutsche Staatsbürgerschaft hat, ist er Deutscher oder Deutsche. Hat jemand nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, ist er oder sie Ausländer*in.
In der Alltagssprache werden aber häufig Menschen, deren Aussehen als „ausländisch“ oder „fremd“ empfunden wird, als „Ausländer*in“ bezeichnet, auch wenn diese die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Der Begriff „Ausländer*in“ hat dabei zumeist einen ausgrenzenden oder herabwertenden Charakter. Da Begriffe wie „Ausländer*in“ und „Ausländerrecht“ oft diskriminierend genutzt wurden und werden, werden die Begriffe heute immer weniger verwendet und zunehmend durch die Begriffe „Migranten“, „Aufenthaltsrecht“ oder „Migrationsrecht“ ersetzt.
Person mit Migrationshintergrund
Der Begriff stammt ursprünglich aus der Verwaltungs- und Wissenschaftssprache, fand seit den 200er Jahren aber auch in der Umgangssprache immer mehr Verwendung. „Migrationshintergrund“ sollte ein wertneutraler und nichtdiskriminierender Begriff sein, den das Statistischen Bundesamt folgendermaßen definiert: „Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde.“
Konkret gehören dazu:
in Deutschland lebende Ausländer*innen
eingebürgerte Deutsche, die nach 1949 in die Bundesrepublik eingewandert sind
sowie in Deutschland geborene Kinder mit deutschem Pass, bei denen sich der Migrationshintergrund von mindestens einem Elternteil ableitet.
Wünsche für die Einheitsfeier
Für die Feiern zur deutschen Wiedervereinigung würde sich Cahit Basar gerne einige Veränderungen wünschen. Bei den Feiern sollten alle Menschen miteinbezogen werden, egal woher sie selbst oder woher ihre Eltern stammen.
Wo ist die gesamtdeutsche Erinnerungskultur?
Karamba Diaby erzählt von seinem Besuch im Deutschen Museum für Foto-, Film- und Fernsehtechnik in Deidesheim (Rheinland-Pfalz) und wie ihn das Fehlen ostdeutscher Filme überrascht hat.