Einheit gut, alles gut?

Eine ungewisse Zukunft

3.10.1990: das ausgebrannte Wrack eines Trabants vor Teilen der Berliner Mauer. Auf ihm liegt die Fahne der DDR. Der Trabant, „Trabi“ war das typische Alltagsauto der DDR-Bürger*innen. (imago images / Sven Simon)

THEMEN  >> Themenmodul II – Modul 5

Millionen Menschen feierten die Wiedervereinigung. Deutschland war wieder ein vereintes Land. Für viele bedeutete dies aber auch negative Veränderungen: Innerhalb weniger Monate schlossen tausende DDR-Betriebe. In Westdeutschland erlebten viele eine Zeit wachsender Arbeitslosigkeit und Unsicherheit. Die Politik bemühte sich vor allem um die Herstellung der wirtschaftlichen und politischen Einheit der beiden deutschen Staaten. Doch was genau bedeutete dies für die DDR-Vertragsarbeiter*innen? Was passierte mit ihnen nach dem Ende der DDR? Und wie wirkte sich die Wiedervereinigung auf Einwander*innen und deren Nachkommen aus?

„Diese Freude der Bürger habe ich mitbekommen, aber sogleich auch die Konsequenzen haben wir alle mitbekommen. Betriebe wurden zugemacht, es gab Massenarbeitslosigkeit. Das hat dann dazu geführt, dass viele verunsichert waren. Leider, Leider haben das einige Gruppierungen auch mitgenutzt, um Gewalt anzuwenden. Es war sehr, sehr negative Stimmung, sehr viel Gewalt.“

Karamba Diaby, 1985 als ausländischer Student in die DDR gekommen. Interview 2020.

„Letztendlich war nicht ganz klar, wohin entwickelt sich das alles und welche Dynamik löst diese deutsch-deutsche Freude des Zusammenkommens aus. Wo bleiben wir, die sich immer auch als Teil dieser Gesellschaft verstanden haben, […] Sind wir denn noch ein Teil dieser deutsch-deutschen Wiedervereinigung? Gibt es da so ein Plätzchen für uns am Tisch? Oder wird das alles jetzt nur noch zwischen West- und Ost-Deutsch ausgemacht und wir fallen dann vielleicht hintenraus?“

Cahit Basar, geboren 1966 in Duisburg, Sohn von kurdischen Einwanderern. Interview 2020.

Arbeitsvertrag mit einem Land im Zusammenbruch

DDR

In der DDR überstürzten sich nach der Maueröffnung die Ereignisse. Durch den Fall der Mauer hofften auch die Vertragsarbeitenden, dass die Grenzöffnung mit neuen Freiheiten verbunden sein würde. Dennoch galt für sie ein Ausreiseverbot, obwohl bereits tausende Menschen für einen Kurztrip die Grenze nach Westdeutschland überquerten.

Durch die Schließung tausender Betriebe nach 1989/90 verloren Hundertausende ihre Arbeit. Meistens waren die Vertragsarbeitenden als Erste davon betroffen. Zwar waren die Regierungsabkommen zur Regelung der Vertragsarbeit noch in Kraft, allerdings kam es vielerorts zu vertragswidrigen Entlassungen. Einige Betriebe organisierten sogar eigenmächtig die Rückführung von Vertragsarbeitenden in ihre Herkunftsländer. Im Mai 1990 waren bereits rund 60 Prozent von ihnen von der Kündigung betroffen.

Treuhandanstalt

Die Treuhandanstalt hatte den Auftrag, ostdeutsche Betriebe nach den Prinzipien der Marktwirtschaft zu privatisieren und diejenigen Betriebe aufzulösen, die als nicht mehr sanierungsfähig galten. Auf die Einführung der D-Mark zum 1. Juli 1990 und die damit einhergehende Marktöffnung folgte eine wirtschaftliche Krise. Viele Betriebe waren nicht wettbewerbsfähig, zugleich ging die Nachfrage nach DDR-Produkten zurück. In der Folge wurden etwa 3.700 der rund 8.000 ehemals „volkseigenen“ Betriebe aufgelöst und stillgelegt.

Im Zuge der Wiedervereinigung kam es zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft in der DDR bzw. in Ostdeutschland. Innerhalb weniger Monate kam es zur Schließung von tausenden Betrieben wie hier 1992 im Stahl- und Walzwerk Maxhütte in Unterwellenborn, Thüringen. (imago images / fossiphoto)

Von Arbeitskolleg*innen zu Konkurrent*innen um die verbliebenen Arbeitsplätze

Mit Streiks und Unterschriftensammlungen wurde in einigen Betrieben von Teilen der Belegschaft die Entlassung der Vertragsarbeitenden gefordert.

„Solange hier nur ein Ausländer im Betrieb arbeitet und ein Deutscher wird entlassen, fließt Blut“

Auszug aus einem rassistischen Brief an einen Betriebsdirektor, 1990

(Quelle: Zitatauszug aus Artikel Tageszeitung „Neue Zeit“ am 31.3.1990.)

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Die 90er Jahre als Zeit der Angst und Gewalt

Im Interview erzählt Karamba Diaby von seinen Erfahrungen in den 1990er Jahren. Insbesondere für international Studierende trat mit dem Mauerfall eine große Verunsicherung auf. Rassistisch motivierte Straftaten sorgten für ein Klima der Angst und Gewalt auf der Straße.

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Von Rassismus keine Spur

Auch nach dem Mauerfall erlebten weder Hong Trung Dinh noch dessen Umfeld Anzeichen von gewalttätigem Rassismus. Von rassistischen Ausschreitungen oder Gewalt erfuhr Dinh ausschließlich aus dem Fernsehen.

Vietnamesische Vertragsarbeitende vor ihrer Ausreise am Flughafen Berlin-Schönefeld, 1991. (imago images / Werner Schulze)

Nicht mehr gebraucht

DDR

Vor dem Mauerfall hatten ausländische Arbeitskräfte und Studierende in der DDR eine gewisse Rechtssicherheit in Bezug auf Arbeits- und Studienplatz, ein regelmäßiges Einkommen und eine Unterkunft. Nach 1989/90 drohte ihnen jedoch nun der Verlust von alldem. Angesicht der Umstellung des wirtschaftlichen Systems von einer Planwirtschaft zu einer Marktwirtschaft, konnten die Verträge nicht mehr weiterbestehen. Hinzu kam die schlechte wirtschaftliche Lage. Deshalb verhandelte die DDR-Regierung neue Abkommen zur Vertragsarbeit. Betriebe konnten nun Vertragsarbeitende legal kündigen, ohne dass diese direkt das Land verlassen mussten. Es wurde ihnen sogar erlaubt in Deutschland zu bleiben und arbeiten. Mit der Kündigung verloren die Vertragsarbeitenden aber auch das Recht auf Unterstützung oder einen Platz im Wohnheim. Sie mussten sich nun selbst um Arbeitsstelle, Wohnung und Lebensunterhalt kümmern ‒ ohne finanzielle Unterstützung, ausreichende Deutschkenntnisse oder Beziehungen zur deutschen Gesellschaft.

„Es gibt keinen erhöhten Arbeitskräftebedarf mehr.“

Die Ausländerbeauftragte und Staatssekretärin der letzten Regierung der DDR, Almuth Berger, engagierte sich als Pfarrerin in den 1980er-Jahren für die Belange von Migrant*innen in der DDR. 1990 leitet sie die Verhandlungen über die Änderungen der Arbeitsmigrationsabkommen. So auch am 12. Mai 1990 als in Hanoi, der Hauptstadt Vietnams, die Rückkehr von vietnamesischen Arbeitskräften beschlossen wird. In einem Beitrag 2020 schildert sie ihre Wahrnehmung der Verhandlungen.

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Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion steht unmittelbar bevor, die DDR hat faktisch keine Finanzhoheit mehr. Ich verstehe, dass das für die vietnamesischen Verhandlungspartner schwer verständlich und noch schwerer zu akzeptieren ist. Jede und jeder, der im Rahmen der Regierungsabkommen in die DDR ging, hatte sich verpflichtet, 12% seines Lohnes für den Aufbau Vietnams an den vietnamesischen Staat abzugeben. Das waren erhebliche Einnahmen für den Staat. […]

Ich bin einerseits froh, dass wir zu einem Ergebnis gekommen sind. Andererseits weiß ich aber auch, dass Tausende von Männern und Frauen, die mit großen Erwartungen und Hoffnungen in die DDR gekommen sind und dort dringend gebraucht wurden, nun sehr enttäuscht und voller Angst vor der Zukunft zurückkehren müssen in ein Land, in dem hohe Arbeitslosigkeit herrscht, in dem es keine staatliche Unterstützung für Arbeitslose gibt, in dem sie kaum eine Perspektive für ihre Existenz haben.

Trotzdem weiß ich: Es musste diese Änderung der Verträge geben. Was in einer sozialistischen, staatlich gelenkten Planwirtschaft der DDR möglich war, konnte in einer freien Marktwirtschaft nicht mehr funktionieren. Es gibt keinen erhöhten Arbeitskräftebedarf mehr – im Gegenteil: Viele Betriebe und Kombinate kämpfen ums Überleben oder gehen bankrott. Menschen müssen entlassen werden, und obwohl die völkerrechtlich verbindlichen Verträge noch existieren, geht das oft nach der Devise: Bevor ein Deutscher geht, fliegt ein Ausländer. Betriebsleiter, die versuchen, ihre ausländischen Arbeiter*innen zu schützen, werden massiv bedroht. Viele Betriebe chartern Flugzeuge und schicken ihre Vertragsarbeiter*innen einfach zurück.

(Quelle: Almuth Berger: Verhandlungen unter schwierigen Bedingungen, 11. Juni 2020, online unter: https://www.boell.de/de/2020/06/11/verhandlungen-unter-schwierigen-bedingungen. Letzter Zugriff: 26.11.2020)

 

Die Fabrik wird geschlossen, das Wohnheim aufgelöst

1989 lebte und arbeitete Van Tuan Nguyen in Uhsmannsdorf, einem kleinen Dorf in Sachsen. Im Gespräch mit einer Journalistin erzählt er von den Hoffnungen, die er und seine Frau mit der Arbeitsstelle in der DDR verbanden.

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„Ein langer Arbeitstag in der Glasfabrik liegt hinter Van Tuan Nguyen, als Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 im Fernsehen die neuen Reiseregelungen für DDR-Bürger verliest. Nguyen sitzt in Uhsmannsdorf bei Görlitz in einem Arbeiterwohnheim, seit gut einem Jahr ist der Vietnamese DDR-Vertragsarbeiter. Hier in Deutschland passiert gerade etwas Historisches, das ist ihm klar.

Mit ein paar Freunden fährt er nach Ostberlin. An der Friedrichstraße sieht er, wie sich die Menschen jubelnd in die Arme fallen, der dunkle Herbsthimmel ist von Feuerwerkskörpern erleuchtet. Nguyen läuft zur Mauer am Brandenburger Tor und bleibt 20 Schritte davor stehen. Weitergehen wird er nicht. Zu groß ist die Angst vor der anderen Seite Deutschlands, aus vietnamesischer Sicht der der Amerikaner. Um keinen Preis möchte Nguyen seinen DDR-Gastarbeiterstatus riskieren und vor Ablauf seines Arbeitsvertrages nach Vietnam zurückgeschickt werden….Den sozialen Aufstieg will er in der DDR schaffen, er will sich, seiner Frau und den zwei Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Dass sein erstes Jahr in der DDR das letzte des Arbeiter- und Bauerstaates sein wird, dass er noch einmal von vorn anfangen wird, mittellos in einem fremden Land, dessen Sprache er kaum beherrscht, ahnt Nguyen nicht, als die Mauer fällt….

„Ich fand die DDR wunderschön“, sagt er. „In Vietnam war alles kaputt.“

Im Winter 1990 findet das gute Leben ein jähes Ende. Die Flachglasfabrik Uhsmannsdorf schließt. Von einem Tag auf den anderen verlieren die Beschäftigten, darunter 40 Vietnamesen, ihre Arbeit. Auch ihre Wohnungen im Arbeiterwohnheim müssen sie verlassen. Ab sofort sollen sie sich selbst um ihren Lebensunterhalt kümmern.“<

(Quelle: Julia Boek: Das Prinzip Fotokopie, in: ZEIT Online, 24.09.2014, online unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2014-09/vertragsarbeiter-vietnam-berlin-wedding. Letzter Zugriff: 26.11.2020.)

„Ausländer raus!“ September 1990

In der DDR-Zeitung „Berliner Zeitung“ erschien im September 1990 ein Artikel mit der Überschrift „Benutzt und fallengelassen – AusländerInnen in der DDR“. In diesem wird die vermehrte Ausländerfeindlichkeit angeprangert und die veränderten Lebensumstände beschrieben:

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„Ahrensfelde — Endstation für die S-Bahn. Wie inzwischen fast überall sind auch hier Graffitis an den Wänden: „Deutschland erwache“, „Deutschland den Deutschen“. Achtlos gehen die meisten Passanten daran vorbei. Aber was müssen wohl jene Menschen fühlen, an die sich diese Sprüche richten, die damit ausgegrenzt und vertrieben werden sollen? Für Dunkelhäutige und Mandelaugige ist das Leben in unserem Land schwer geworden. […] „Du nach Hause gehen, nach Vietnam.“ Der Vietnamese, angesprochen von seinem Sitznachbarn in der S-Bahn, schüttelt den Kopf. Versteht er nicht, oder will er nicht zurück? Etwas eindringlicher wird die Aufforderung wiederholt :„Ausländer raus „! Für die ostdeutschen Arbeitnehmer sind schwere Zeiten angebrochen. Arbeitsplätze sollten in diesen Zeiten von Deutschen besetzt werden, ist nun nicht selten zu hören.“

(Zeitungsartikel „Benutzt und fallengelassen – AusländerInnen in der DDR“ in: Berliner Zeitung, Sa. 22. September 1990 / Jahrgang 46 / Ausgabe 222 / Seite 3)

Deutschland vereint! – zurück in die Heimat?!

DDR

Die neuen Abkommen waren im Grunde eine „Rückkehrförderung“ und wurden von vielen Vertragsarbeitenden als Form der Abschiebung empfunden. In den Abkommen wurde jedem Vertragsarbeitenden, der seinen Arbeitsvertrag vorzeitig auflöste und in sein Herkunftsland zurückkehrt, eine Summe von 3000 Mark zugesprochen. Auch die Wiedervereinigung brachte keine großen Änderungen. Diejenigen, die im wiedervereinten Deutschland bleiben wollten, mussten viele Hürden überwinden, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Viele der DDR-Arbeitsmigrant*innen entschlossen sich daher für die Rückkehr in ihre Herkunftsländer.

„Die wollen uns jetzt loswerden.“

Der mosambikanische Vertragsarbeiter Ibrahimo Alberto erlebte den Mauerfall 1989 im Krankenhaus. 1990 kehrt er in das Vertragsarbeiterwohnheim zurück, in dem sich in der kurzen Zeit „alles“ verändert hatte.

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Ich kehrte ins Getto [Vertragsarbeiterwohnheim] zurück. Auf den ersten Blick war alles wie früher, auf den zweiten Blick war alles anders. Zwei Worte machten die Runde, beide mit unüberschaubaren Auswirkungen: Das erste hieß ‚Begrüßungsgeld‘, das zweite ‚Rückführung‘. Jeder DDR-Bürger sollte bei der Einreise in die BRD 100 Westmark erhalten. Das Getto stand kopf! Waren wir dazu berechtigt? […] Für weniger Euphorie sorgte das Wort ‚Rückführung‘. ‚Die wollen uns jetzt loswerden, stimmt`s Chef?‘ fragte mich ein junger Mosambikaner, der seit zwei Jahren im Land lebte. […] ‚Wir sind ja nicht so‘ meinte der Betriebsdirektor ‚jeder kriegt 2500 Mark bar auf die Kralle. […] Auf der einen Seite war ich froh, dass man es nicht nach Maputo [Hauptstadt Mosambiks] überwies, dann wäre es wohl weg gewesen. Auf der anderen Seite war klar, dass einige das Geld nehmen würden, um gleich darauf die Mücke zu machen. Ab nach Westdeutschland, bevor die Rückführung durchgeführt werden konnte […]. Dann kamen neue Anordnungen: Rückgeführt würden alle, die weniger als acht Jahre in der DDR gelebt hatte. Für die meisten aus dem Getto […] war damit das Abenteuer Deutschland beendet. […] Der Bürgerkrieg in Mosambik ging in sein dreizehntes Jahr. Erst [1990-1992] […] kam es zu Gesprächen zwischen den verfeindeten Parteien. […] Für viele Menschen, die jetzt aus Deutschland abgeschoben wurden, war das zu spät. Kaum betraten sie mosambikanischen Boden, wurden sie eingezogen und im Bürgerkrieg verheizt.

(Quelle: Alberto, Ibrahimo: Ich wollte leben wie die Götter. Was in Deutschland aus meinen afrikanischen Träumen wurde, Köln 2014, S. 183.)

Anzahl der erwerbstätigen Ausländer*innen aus Vietnam, Mosambik und Angola vor und nach der Wende

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Die Frage nach der Heimat

Nach dem Mauerfall muss sich Hong Trung Dinh die Frage stellen, ob er in Deutschland bleiben oder nach Vietnam zurückkehren soll. Zudem stellt sich Dinh die Frage, was heute seine „Heimat“ ist – Deutschland oder Vietnam?

Vertragsarbeit ade! – doch was nun?

DDR

Ende des Jahres 1990 hatten bereits 70 Prozent der ehemaligen Vertragsarbeitenden Deutschland verlassen. Viele von denjenigen, die blieben, begannen als Straßenhändler Waren zu verkaufen oder eröffneten eigene Imbisse oder Textilgeschäfte. Andere versuchten in der Not, mit dem illegalen Handel von Zigaretten Geld zu verdienen. Wer sich arbeitslos meldete und innerhalb einer Woche keine Arbeit fand, konnte abgeschoben werden. Meist erfuhren Vertragsarbeitende nur durch selbst organisierte Migrantenvereine von der Möglichkeit zum legalen Aufenthalt in Deutschland. Erst ab 1997 wurde es möglich, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Damit wurden ausländische Arbeitskräfte aus der DDR erst sieben Jahre nach der Wende denjenigen der Bundesrepublik rechtlich gleichgestellt.

Etwa 200 Vietnames*innen, darunter viele ehemalige Vertragsarbeiter*innen, demonstrierten am 28. November 1995 in Erfurt für das Bleiberecht von 2000 Vietnames*innen in Thüringen. (picture alliance / ZB / Ralf Hirschberger)

Wer Zigaretten schmuggelt, wird abgeschoben. Wer nicht, meistens auch.

Minh-Mai kam 1987 in die DDR und hatte einen Vertrag, der bis Ende April 1992 gültig gewesen wäre. Doch 1991 wurde der Betrieb, in dem sie arbeitete, verkauft und alle Arbeiter*innen gekündigt.

„Und dann habe ich bei der Ausländerbehörde eine Verlängerung beantragt und sie haben gesagt, wenn ich nicht innerhalb einer Woche Arbeit finde, dann werden die Unterlagen zur Abschiebebehörde weitergeschickt. Ich hatte aber keine Zigaretten – warum dann Abschiebebehörde?“

(Quelle: https://www.projekte.hu-berlin.de/de/migrationddr/migration-in-die-ddr-und-brd/projekte/vietnam/gesamt#wendezeit.)

Mit der deutschen Wiedervereinigung verlor die Berliner Mauer endgültig ihren Zweck. Da die Mauer ein Symbol der deutschen Teilung und des Kalten Krieges war, begannen die Menschen, Mauerteile als Erinnerungsstücke herauszuschlagen. Die sogenannten Mauerspechte nutzten Hammer und Meißel, um die Mauer zu bearbeiten. Mancher Mauerspecht behielt sein Mauerteil als Erinnerungsstück, mancher verkaufte es. Noch heute kann man in Souvenirläden kleine Mauerstückchen an Schlüsselanhängern oder zum Hinstellen kaufen. Besonders begehrt waren die mit Graffiti bemalten Teile der Mauer; Foto um 1990. (akg-images / Lothar M. Peter)

Ein Stück Mauer bleibt

Bundesrepublik

Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lebten in der Bundesrepublik Deutschland mehrere Millionen Einwander*innen und deren Nachkommen. Viele von ihnen waren als Gastarbeiter*innen in das Land gekommen. Sie hatten sich in Deutschland eine Existenz aufgebaut, hatten eine Familie gegründet und Familienangehörige aus der „alten Heimat“ nachgeholt. Viele von ihnen feierten mit als Deutschland wiedervereint wurde. Auch sie erlebten die Wiedervereinigung als eine Zäsur – leider jedoch nicht immer als eine positive. Oftmals wich die anfängliche Euphorie über die Veränderungen einer Unsicherheit.

„Die Wiedervereinigung war ein großes Thema, das wir sowohl im studentischen Umfeld oder bei mir in der Familie immer wieder auf dem Tisch hatten und thematisierten. Damit verbunden war aber auch immer eine große Verunsicherung. Wie geht es weiter? Wie wird es sich entwickeln? Wo ist unser Platz? Wo wird unser Platz sein? Die ersten Vorzeichen zeigten das ja auch schon: Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und Ausländer. Ausländerfeindliche Parolen und dergleichen. Das zeigte, dass wir unseren Platz in der Gesellschaft nochmal ganz offensichtlich neu erkämpfen oder definieren müssen.“

Cahit Basar, geboren 1966 in Duisburg, Sohn von kurdischen Einwanderern

Wiedervereinigt und arbeitslos

Einige Deutsche in Ost wie West meinten, dass die Einwander*innen und deren Nachkommen nach dem Mauerfall nicht mehr gebraucht würden. Ihre Sichtweise war: Jetzt können ja die Ostdeutschen wieder nach Westdeutschland reisen und dort arbeiten. Tatsächlich war es so, dass mit dem Mauerfall auch die Arbeitslosigkeit unter ausländischen Arbeitskräften erheblich zunahm.

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„Die Öffnung des Ostens hat nicht nur uns, sondern unsere ganzen Kinder in die Arbeitslosigkeit getrieben, also sehr viele Ausländer wurden arbeitslos. Als die Mauer fiel, wurden die Ausländer entlassen. Sie wurden entlassen, und sie haben von dort [aus dem Osten] ihre eigenen Jugendlichen, die Arbeitslosen, genommen. […] Egal wohin wir gegangen sind, haben sie Ostler bevorzugt. Sie arbeiten für drei Mark, wir können nicht einmal für fünf Mark arbeiten. Also wenn wir für zehn Mark arbeiten, arbeiten die für drei Mark, also sind wir gegangen, sie haben uns entlassen. Andere Sorgen haben wir nicht, das ganze Problem ist die Arbeitslosigkeit.“

Kiraz G., geboren 1944 in der Türkei, lebt seit 1971 in Deutschland.

(Quelle: Nevim Cil: Topographie des Außenseiters. Türkische Generationen und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess, Berlin: Verlag Hans Schiler 2007, S.154.)

 

Von Integration ist nach der Wende keine Rede mehr

Der Journalist Erkan Arikan, dessen Eltern als Gastarbeitende aus der Türkei nach Deutschland gekommen waren, ist mit der Mauer groß geworden. In einem Kommentar beschreibt er, warum der Mauerfall aus seiner Sicht die Integration der Gastarbeitenden aufgehalten hat.

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„Ab Mitte der 1980er Jahre wurde in (West)-Deutschland viel für die Integration getan. Sprachkurse und Sportvereine waren Garanten für das Erlernen der deutschen Sprache und die Integration in die deutsche Gesellschaft. Ich möchte sogar behaupten, dass viele Kinder der Gastarbeiter, wie ich es bin, die Chance hatten, aus den Ausländervierteln der Ballungsgebiete wegzuziehen und – wie es immer gerne gesagt wird – Paradebeispiele gelungener Integration zu werden. …

Doch 1990 gab es nach meiner Wahrnehmung einen Bruch: Plötzlich konzentrierte sich ganz Deutschland nur noch auf die sogenannten Neuen Bundesländer. Die aus der Türkei stammenden Gastarbeiter, die sich damals auf der Skala der Integration ganz weit oben befanden, fielen mit dem Mauerfall plötzlich ab. Alles wurde dafür getan, damit die vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ Wirklichkeit werden konnten. Der Solidarzuschlag, um den Osten voranzubringen, wurde eingeführt. Auch wir „Ausländer“ bezahlen den bis heute. Und nicht nur das: Gastarbeiter jeglicher Herkunft waren auch maßgeblich daran beteiligt, dass Deutschland wirtschaftlich zu der Großmacht geworden ist, die es heute ist. Aber was geschah dann? Wie ging man mit den Gastarbeitern um? Von heute auf morgen wurden sie zu „Migranten“ erklärt, die selber schauen sollten, dass aus ihnen etwas wird. Hinsichtlich der Integration wurde das einstige Fördern auf ein reines Fordern reduziert.“

(Quelle: https://www.dw.com/de/kommentar-nach-dem-mauerfall-blieb-die-integration-der-gastarbeiter-auf-der-strecke/a-5117298.)

Deutschland den Deutschen?

Bundesrepublik/DDR

Im Zuge der Wiedervereinigung mussten viele Menschen erleben, dass die Betonung einer gesamtdeutschen Identität auch negative Auswirkungen hatte. Vielerorts hieß es ganz offen „Deutschland den Deutschen“ oder „Ausländer raus“. Zwar gab es rassistische Anfeindungen und Gewalt schon immer, jedoch schienen sich diese in der Wendezeit 1989/90 zu verstärken. Viele fühlten sich von Politik und Gesellschaft allein gelassen: „Die Mauer ist gefallen und sie ist uns Türken auf den Kopf gefallen“ – so formulierte es ein Zeitgenosse im Interview.

„Die Mauern sind weg… aber unsichtbare Mauern gibt es immer noch. Blicke, Beleidigungen, fortdauernde Diskriminierung und die meisten Gewalttaten schaffen es nicht in die etablierte Presse.“

Zitat aus dem Film „Duvarlar – Mauern – Walls“ von Can Candan.

Filmtipp: Duvarlar – Mauern – Walls

Im Film „Duvarlar – Mauern – Walls“ interviewte der türkische Filmemacher Can Candan Anfang der 1990er Jahre türkische Frauen und Männer in Berlin zum Mauerfall. Aus ihren Aussagen wird deutlich, dass von vielen Deutschen ein Gefühl vermittelt wurde, der Weg bis zum Fall der Mauer sei ein – allein – „deutsches“ Ereignis gewesen. Den gesamten Film gibt es auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung kostenlos zu schauen.

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Die Jahre nach dem Mauerfall

Dank eines Studienstipendiums bekam Karamba Diaby die Möglichkeit, in Halle Chemie zu studieren. Die Studienjahre empfand er aufgrund der friedlichen Revolution und der Proteste auch als eine Zeit der Verunsicherung.

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Der Mauerfall als großes Thema

Für Cahit Basar und seine Familie war die Wiedervereinigung und der demokratische Wandel in Ostdeutschland ein vieldiskutiertes Thema. Vor allem den Schutz der Demokratie sieht Cahit Basar als wichtig an für den Kampf gegen Rassismus. 

„Wir sind ein Volk“?

Rassismus und Gewalt nach 1990

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