„Wir sind ein Volk“?

Rassismus und Gewalt nach 1990

Gegen Rassismus und rechtsextreme Gewalt demonstrierten am 6.12.1992 in München bei einem Marsch durch die Innenstadt über 400.000 Menschen. (imago images / WEREK)

THEMEN  >> Themenmodul II – Modul 6

Die nationale Begeisterung, die die deutsche Einheit auslöste, hatte auch Schattenseiten. Nach der Wiedervereinigung tauchte ein neuer „gesamtdeutscher Nationalismus“ auf. Rassismus und Gewaltbereitschaft hatte es in beiden deutschen Staaten immer gegeben, nun jedoch häuften sich die gewalttätigen Vorfälle und rassistischen Aussagen. Viele Ausländer*innen und Einwander*innen sowie deren Nachkommen erlebten die ersten Einheitsjahre daher auch als bedrohlich. Sie wurden nun auf einmal wieder als „Ausländer*innen“ und als „fremd“ wahrgenommen und dargestellt – und zwar mehr denn je zuvor.

Die WM 1990 – der neue deutsche Nationalstolz?

Parallel zu den Wiedervereinigungsprozessen in Deutschland fand 1990 in Italien die Fußballweltmeisterschaft statt. Die Fußballmannschaft der Bundesrepublik nahm daran teil, die der DDR nicht. Als die Mannschaft der Bunderepublik am Abend des 8. Juli mit einem 1:0-Sieg gegen Argentinien Weltmeister wurde, war das ganze Land – in Ost wie West ‒ im Freudentaumel. Vereinigt waren Beide beide Deutschlands wieder eine Macht, mit der nun zu rechnen war, nicht nur im Fußball. In diesem Stil drückte sich nach dem WM-Finale auch der Bundestrainer, Franz Beckenbauer, aus.

Viele Einwander*innen und deren Nachkommen hätten sich gerne ebenso vorbehaltlos gefreut, doch beschreibt Tarek Al-Wazir die aufkommende Sorge gegenüber dem plötzlich ganz präsenten deutschen Nationalstolz. Mitten im Freudenfest zum WM-Sieg kam es zu rassistisch motivierten Ausschreitungen. Einwander*innen und deren Nachkommen fragten sich damals: Wenn die Deutschen nun auf einmal wieder so stolz auf sich selbst sind, wo führt das am Ende hin – und wo ist dann unser Platz in diesem Land?

Tarek Al-Wazir: ausländerfeindliche Atmosphäre

Tarek Al-Wazir erinnert sich an die rassistisch motivierten Brandanschläge und Ausschreitungen von Rechtsextremen Anfang der 90er Jahre. Al-Wazir ist Kind eines jemenitischen Vaters und einer deutschen Mutter.

 (Quelle: Zeitzeugenportal/Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland)

Wiedervereinigung und Rechtsextremismus?

Rassismus, Rechtsextremismus und Gewalt gegen Ausländer*innen hatte es in der Bundesrepublik sowie der DDR bereits vor 1989 gegeben. Dennoch kam es in den Monaten und Jahren nach der Wiedervereinigung 1990 überall in Deutschland vermehrt zu rassistischen und rechtsextremen Gewalttaten und Ausschreitungen. In vielen Dörfern und Stadtteilen gab es einen von Rechtsextremisten propagierten „Kampf um die Straße“. Oft vor den Augen der Öffentlichkeit und der Polizei machten Deutsche „Jagd auf Ausländer“. Während in Westdeutschland Ausländer*innen, Einwander*innen und deren Nachkommen beleidigt und bedroht wurden, waren es in Ostdeutschland vor allem die ehemaligen Vertragsarbeitenden und ausländischen Studierenden. Viele der ehemaligen Vertragsarbeitenden in Ostdeutschland zogen sich in dieser Zeit in ihre Wohnheime zurück und trauten sich oft nur noch als Gruppe auf die Straße.

Im September 1991 belagerten Rechtsradikale und Anwohner fünf Tage lang die Unterkünfte von Vertragsarbeitenden und Asylsuchenden in Hoyerswerda. Unter rechten Parolen warfen sie Steine, Flaschen und Brandsätze in die Fenster und griffen Vertragsarbeitende an. Nachdem die Polizei die Bewohner der Wohnheime evakuiert hatte, erklärten Neonazis Hoyerswerda zur „ersten ausländerfreien Stadt“. Die Bewohner der Unterkunft konnten es oft gar nicht fassen, was passiert: „Warum hassen Sie uns? SOS!“ (picture-alliance / ZB).

Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft in Hoyerswerda

In einem Interview 1990 mit dem links-alternativen Berliner Stadtmagazin „Zitty“ versucht ein Bürger aus Hoyerswerda sein Vorgehen zu rechtfertigen. Seine Behauptung, dass Vietnames*innen eher Mopeds und Fahrräder bekommen würden als DDR-Bürger*innen, entsprach jedoch nicht der Realität.

„Wie soll es weitergehen mit den Ausländern hier im Land?“

Carsten: „Wir wollen, daß die Ausländer wieder aus dem Land verschwinden. Es herrscht hier die Meinung „Deutschland den Deutschen.“

 

„Ist das auch deine Meinung?“

Carsten: „Ja, das sehe ich auch so. Im Moment werden die Ausländer ja bevorzugt. Vietnamesen bekommen Mopeds und Fahrräder eher als wir. Ich bin der Meinung, daß es schlimm werden wird hier, gerade wenn die Wiedervereinigung gekommen ist. Viele werden sich dann Waffen besorgen. Zur Zeit ist das [N***klatschen] ein richtiger Volkssport…Wenn z.B. Deutsche keine Arbeit haben und [N***] haben welche, dann gibt es Ärger.“

(Quelle: Zitty Live Magazin 12/90, S. 23.)

„Sie haben uns geschlagen. Wir gehen nach Hause, okay. Aber warte ab, ob es denen dann besser geht“

Interview in dem Arbeiterwohnheim in Hoyerswerda, das am 17. und 18.9.91 von Skinheads und Jugendlichen unter Beifall der Nachbarn angegriffen wurde. Teilnehmende dieses Gesprächs waren Ahmed (A), der seit August 91 im Koordinationskreis Mosambik arbeitet; Armando, Mosambikaner, der 9 Jahre in einem ostdeutschen Großbetrieb als Fleischer arbeitete und seit Oktober Ahmeds Mitarbeiter beim KKM ist; David Zacharias (DZ), der vor 12 Jahren aus der Provinz Nyassa nach Hoyerswerda kam und seitdem dort im Tagebergbau arbeitet: 

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Ein Gastbeitrag von Eva Engelhardt und Ahmed Farah, zuerst erschienen im Buch „Schwarz-Weiße Zeiten. AusländerInnen in Ostdeutschland vor und nach der Wende.“ im Jahr 1993

Das vollständige Interview ist auf der Seite https://www.hoyerswerda-1991.de/1991/angriffe.html zu finden.

A: Erzählt doch noch einmal die ganze Geschichte, wie es zu den Angriffen auf euch am 17.9. gekommen ist

DZ: Es fing damit an, daß vietnamesische Kollegen, die auf dem Markt Zigaretten verkauften, von den Skinheads angemacht wurden. Die Skins ließen ihren Hund los, damit er die Vietnamesen beißen sollte. Da haben die Vietnamesen den Hund mit einem Messer gestochen und die Skins wurden richtig böse. 9 Skinheads griffen 3 Vietnamesen an. Sie verfolgten sie bis zu diesem Wohnheim. Als sie ankamen, war schon Polizei da, 9 Männer. Die Vietnamesen flüchteten ins Haus und die Skins standen davor. Wir alle, Mosambikaner und Vietnamesen sind ins Haus gegangen und nach oben geflüchtet. Dann haben wir eine Stunde hier verbracht. Die Skins haben getanzt, Schnapsflaschen aufgemacht und getrunken und geschrien „Ausländer raus!“, “Deutschland ist für die Deutschen” und so. Die Polizisten haben nur zugeschaut und später kamen immer mehr Zuschauer, bis alles hier voll war. Nach 1 1/2 Stunden haben sie angefangen, Steine gegen unsere Scheiben zu werfen. Wenn sie getroffen haben und die Scherben herunterfielen, haben die Zuschauer in die Hände geklatscht. Das hieß für uns „Jawoll, habt ihr richtig gemacht!“ Und die Polizisten, die 12 Mann, die hier waren, haben sich nicht getraut, die 9 Skinheads festzunehmen. Sie haben nur zugekuckt und als sie nach dem Kommando verlangt haben, hat es nochmal 2 Stunden gedauert, bis die gekommen sind. Als sie ankamen, haben sie schon gesehen, daß alles kaputt war und immer mehr Leute kamen. Es dauerte bis 22 Uhr, bis das Kommando kam und die Krawalle aufhörten.

Am nächsten Tag fing das gleiche um 15 Uhr an. Schüler waren dabei, nicht nur Skinheads. Kinder kamen in Begleitung ihrer Eltern. Die Eltern haben ihren Kinder die Steine gegeben und die Kinder haben die Steine in die Fensterscheiben geworfen. Und wenn die Scheiben herunterfielen, haben sie in die Hände geklatscht, die Eltern auch. Es gab nur ganz wenige Eltern, vielleicht 4 Familien, die ihre Kinder aus diesem Krawall herausgeholt und geschimpft haben. Aber ein Großteil war einverstanden mit dem Krawall.

Während wir die ganze Sache von oben betrachtet haben, haben wir uns gedacht, daß diese Krawalle nicht wegen der Ausländerfeindlichkeit angefangen haben, sondern wegen unserer schwarzen Haut. Zwar begann das Problem mit den Vietnamesen, aber es hieß dann, die Mosambikaner hätten die Skins provoziert. 4 Tage später kamen dieselben Skinheads zum Asylantenheim und haben dort weitergemacht. Als wir die Journalisten fragten, wer hat denn dort die Skinheads provoziert, wußten sie keine Antwort. Das ganze Problem und die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, sind nicht von gestern auf heute entstanden. Das ist nicht nur Ausländerfeindlichkeit, das ist Rassismus, der sich zeigt. […]

Für uns ist klar, daß das Problem nicht erst heute angefangen hat, sondern schon ewig besteht. Wenn die Polizei von Anfang an reagiert hätte, wie es sein sollte, dann hätten sich die Probleme nicht so entwickelt. Von Anfang an hat die Polizei die Leute veranlaßt zu sagen: „Wenn wir die Macht haben, haben wir recht und die anderen haben kein Recht.“ Dadurch haben die die Kraft gekriegt. Und heute, wenn die frei sind, denken die: „Jetzt sind wir frei und können machen, was wir wollen“. Was war die Reaktion der Polizei? Sie haben zugekuckt. Als die mit Autos kamen und ganz nahe ans Wohnheim rollten, haben sich die Polizisten nicht gerührt. Wenn die den Kofferraum aufgekriegt hätten und mit Benzin ein Feuer gemacht hätten, hätte es kein Wohnheim mehr gegeben. Die Polizei hat zugekuckt. Und als das Kommando kam, haben sie gesehen, daß die Leute Steine herschmeißen; zugekuckt haben sie. Sie haben die Skinheads freigelassen und das war für uns eindeutig, daß die Leute mit solchen Sachen einverstanden sind. […]

E: Was sind die Motive der Skinheads, euch zu schlagen?

D.Z.: Die Skinheads haben keine Aussage. Die trinken und fühlen sich lustig und wollen alle attackieren. Die wollen ihren Spaß haben. Die greifen alle an.

Unsere Probleme sind nicht nur die Skinheads, sondern die tragen sie nur nach außen. Viele sind gekauft, weil sie sowieso ausgesondert sind von der Gesellschaft. Sie wurden auf uns gelenkt, damit sie nicht jeden auf der Straße attackieren. Denk an die Krawalle, 9 Skinheads wären gar kein Problem gewesen, aber all die Leute, die sie unterstützt haben.

Die Jugendlichen hören, was zu Hause geredet wird und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Die haben auch nirgendwo was zu sagen. Wenn die Kinder sich auf unsere Seite stellen, werden sie geschlagen. Die Kinder kriegen von ihren Eltern keine richtige Erziehung, wie man mit Ausländern umgehen soll. […]

E: Wie war die Situation im Betrieb? Gab es da Kollegen, die zu euch hielten?

DM: Es gab einige, die mit uns waren und die gesehen haben, was mit uns passierte. Wir hatten Freunde unter den deutschen Kollegen, die ihre Kraft für uns gegeben haben. Aber gegen die Polizei offen zu sprechen, haben sie sich nicht getraut. Damals hatte man Angst, einzugreifen. In der Zeit, in der was passierte, wurde etwas geredet, aber nach und nach war es dann egal. Wir haben auch die SED oder den FDGB angesprochen, aber die sagten nur: „Ach, das sind Leute, die im Gefängnis waren“. Wenn wir unter uns waren, dann haben sie versucht, den großen Boss zu spielen: „Mit diesen Leuten muß man das und das machen!“ und so. Aber dann in der großen Versammlung konnte man richtig merken, daß sie nichts sagen wollten. Das war eine harte Zeit für uns. […]

A: Wenn ihr die Zeit vergleicht vor der Wende und nach der Wende, hat sich da was in eurem Leben verändert?

DZ: ln der Honnecker-Zeit hatten wir bei solchen Problemen, wie wir sie angeschnitten haben, keine Rechte. Es gab keine Stelle, wo wir sowas diskutieren konnten. Wenn ich heute Fehler im Betrieb sehe, kann ich darüber diskutieren und kann mich beschweren, was es damals nicht gab.

Wenn die Leute die Freiheit richtig begriffen hätten, dann könnten wir sagen, heutzutage wäre der richtige Moment für Menschlichkeit. Aber die Leute wissen überhaupt nicht, wo vorne und hinten ist. Einige, die uns heiß machen, haben ihre eigenen sozialen Probleme nicht gelöst. Wenn man mit Problemen anfängt und es wird besser, dann vergißt man die Probleme später. Aber bei uns fing es mit Kleinigkeiten an, dann kam die Freiheit, dann die Anschläge. Das ist ein Schock, den ich nicht vergessen kann. Wenn ich nach Hause komme, kann ich über einige gute Leute erzählen, aber dieser Schlag bleibt in meinem Herzen und schmerzt, und niemand von uns wird es vergessen.

Ich verstehe, daß die Probleme haben, z.B. wenn in einer Familie Mutter und Vater arbeitslos werden, und die nicht mehr wisse, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Aber die müssen ihre Probleme anders lösen. Sie haben uns geschlagen, wir gehen nach Hause, o.k. Aber warte ab, ob es denen dann besser geht.

Das ist eine Tradition in Deutschland. Wenn es Probleme gibt, dann versucht man die durch die Ausländer zu lösen. Das ist nicht nur heute so, das war schon gestern so.

(Quelle: Ein Gastbeitrag von Eva Engelhardt und Ahmed Farah, zuerst erschienen im Buch „Schwarz-Weiße Zeiten. AusländerInnen in Ostdeutschland vor und nach der Wende.“ im Jahr 1993 online unter: https://www.hoyerswerda-1991.de/1991/angriffe.html)

Wer war Amadeu Antonio?

Amadeu Antonio Kiowa war eines der ersten Todesopfer rassistisch motivierter Gewalt im wiedervereinten Deutschland. Im Dezember 1990 wurde der Angolaner in Eberswalde/Brandenburg auf offener Straße von einer Gruppe Skinheads zusammengeschlagen und starb an den Folgen des Angriffs. Heute trägt eine Stiftung den Namen von Amadeu Antonio, die sich zum Ziel gesetzt hat, eine Zivilgesellschaft zu fördern, die sich gegen Rechtsextremismus und Rassismus einsetzt:

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„Der gebürtige Angolaner war der Älteste von 12 Geschwistern und wurde am 12. August 1962 in der Stadt Quimbele geboren. Seine Freunde und Freundinnen beschreiben ihn als aufgeschlossenen und ruhigen Menschen, der die Musik liebte. Amadeu Antonio absolvierte mehrere Ausbildungen, unter anderem in Schweden und Portugal, bevor er 1987 als Vertragsarbeiter in die DDR kam – gemeinsam mit 103 weiteren Personen aus Angola. Er kam mit dem Traum nach Deutschland, Flugzeugtechnik zu studieren. Dieser Wunsch wurde ihm jedoch von der DDR-Verwaltung nicht gestattet. Stattdessen wurde er, wie zu dieser Zeit viele ausländische Vertragsarbeiter, zum Fleischer ausgebildet.

Amadeu Antonio fand seine neue Heimat in der Brandenburgischen Stadt Eberswalde – einer Hochburg der Rechtsextremen. Er arbeitete in einem Schlacht- und Verarbeitungskombinat und wollte sich eine langfristige Perspektive in der Stadt aufbauen, eine Familie gründen. Die Ankunft wurde ihm jedoch von der Verwaltung erschwert: die Vertragsarbeiter mussten in gesonderten Wohnhäusern wohnen, abgeschirmt von der restlichen Bevölkerung. Kontakte zu Einheimischen waren unerwünscht, in den örtlichen Gaststätten waren die „Ausländer“ nicht gerne gesehen.

Mit der Wiedervereinigung veränderte sich die Situation für viele schlagartig. Die allgemeine Stimmung des Aufbruchs und der Veränderung war für die Gastarbeiter geprägt durch Unsicherheit hinsichtlich Arbeitsplatz und Aufenthaltsstatus. Gleichzeitig war „die Wende“ eine Zeit rassistischer Pogromstimmung:  Rechtsextreme Straßenbanden zogen durch die Städte und Gemeinden und bedrohten all jene, die nicht in ihr Weltbild passten. Es kam zu regelrechten Gewaltexzessen durch Neonazis. Die Politik reagierte nicht, Gemeinden befürchteten einen Imageschaden und bagatellisierten den anwachsenden Rechtsextremismus. Die Gewalt wurde vielerorts stillschweigend in Kauf genommen.

Auch in Eberswalde herrschte eine solche Stimmung. So kam es, dass am 24. November 1990 eine Gruppe Rechtsextremer in der Stadt umher zog, um „Neger zu klatschen“ – wie ein Angeklagter später vor Gericht aussagte. Die 50-60 Personen hatten die Gaststätte „Hüttengasthof“ zum Ziel – einer der wenigen Orte, an dem sich die ausländischen Vertragsarbeiter ungestört treffen konnten. Schon auf dem Weg dorthin brüllten die Neonazis rassistische Parolen wie „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ oder „Neger verpisst euch“.

Amadeu Antonio war an diesem Abend Gast des Lokals, zusammen mit zwei Männern mosambikanischer Herkunft und zwei weißen Frauen. Die Polizei, die über das Treffen der Neonazis informiert war, empfahl dem Gastwirt des „Hüttengasthofs“ sein Lokal an jenem Abend zu schließen.

Als der Gastwirt die Gruppe hinaus bat, lief sie dem aufgepeitschten Mob der Neonazis direkt in die Arme. Die Neonazis, bewaffnet mit Zaunlatten und Baseballschlägern, fingen sofort an auf die Gruppe einzuschlagen. Amadeu Antonios Begleitung konnte schwer verletzt fliehen – er selbst jedoch nicht. Rund zehn Personen verfolgten ihn und schlugen ihr wehrloses Opfer brutal zusammen. Selbst als Amadeu Antonio bereits am Boden lag, ließen die Angreifer nicht von ihm ab. Einer sprang ihm mit beiden Füßen auf den Kopf. Erst als ein Bus vorbeifuhr stoppten die Neonazis den Angriff und ließen ihr Opfer regungslos zurück. Amadeu Antonio erlangte nie wieder das Bewusstsein. Nachdem er 11 Tage im Koma lag, starb er am 6. Dezember 1990 an Multiorganversagen. Eine unmittelbare Folge des Angriffs.

Amadeu Antonios damalige Freundin war zum Zeitpunkt der Tat schwanger. Sein Sohn, Amadeu Antonio Jr., kam am 9. Januar 1991 zur Welt.“

(Aus „Rassismus ist kein Randproblem“ Materialien für pädagogische Fachkräfte (2018). https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2019/05/Comic-Handreichung_Rassismus_ist_kein_Randproblem.pdf)

 

1993 zündeten im nordrhein-westfälischen Solingen rechtsextreme Jugendliche ein von türkischen Familien bewohntes Haus an. Hülya Genç, 9, Gülüstan Öztürk, 12, und Hatice Genç, 18, kamen in den Flammen ums Leben, Gürsün İnce, 27, und Saime Genç, 4, erlagen ihren Verletzungen nach einem Sprung aus dem Fenster. 17 Bewohner wurden schwer verletzt. (akg-images / picture-alliance / dpa)

Rostock-Lichtenhagen 1992

Im August 1992 griffen hunderte Rechtsextreme in Rostock-Lichtenhagen (Mecklenburg-Vorpommern) unter dem Beifall tausender Zuschauer die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische DDR-Vertragsarbeitende an. Die Polizei zog sich aufgrund der gewaltbereiten Menschenmasse zurück. Rechtsextreme drangen in das Gebäude ein und steckten es unter den Parolen: „Wir kriegen euch alle!“ und „Gleich werdet ihr geröstet!“ in Brand. Die bis zu 3.000 Zuschauer unternahmen kaum etwas. Menschen standen vor dem brennenden Haus, schrien rassistische Parolen und hinderten Polizei und Feuerwehr an einem Durchkommen. Nur mit Mühe und Not konnten sich die Bewohner auf das Dach des benachbarten Hauses flüchten.

Mölln 1992

Im November 1992 wurden nachts Brandsätze in zwei Häuser geworfen, die von türkischen Familien bewohnt wurden. In einem der beiden Häuser starben drei Menschen: zwei Cousinen im Alter von zehn und 14 Jahren sowie ihre 51-jährige Oma. Weitere neun Menschen wurden schwer verletzt. Einige Tage später wurden zwei rechtsextreme Skinheads festgenommen, die zu dem Zeitpunkt 19 und 25 Jahre alt waren. Da der Anschlag für bundesweites Aufsehen sorgte, wurde die schleswig-holsteinische Kleinstadt Mölln zum Sinnbild für Fremdenhass. Als Reaktion auf den Anschlag fanden in ganz Deutschland Proteste gegen Fremdenfeindlichkeit statt. Lichterketten wurden zum Markenzeichen der Proteste. Mehr als 10.000 Menschen nahmen an der Trauerfeier für die Opfer teil.

 

Solingen 1993

Im Mai 1993 wurde in Solingen (Nordhein-Westfalen) ein Brandanschlag auf ein Zweifamilienhaus verübt, das von Menschen türkischer Abstammung bewohnt war. Dabei kamen fünf Frauen und Mädchen zwischen vier und 27 Jahren ums Leben. 17 weitere Familienmitglieder erlitten Verletzungen, darunter auch lebensgefährliche. Wenige Tage nach dem Anschlag wurden vier junge Männer im Alter von 16 bis zu 23 Jahren festgenommen. Alle vier waren aus der Solinger Neonaziszene bekannt und bereits vor der Tat mit rechtsextremen Sprüchen aufgefallen. Zu diesem Zeitpunkt war es der folgenschwerste rassistische Anschlag, den es in Deutschland jemals gab, weshalb er heftige Reaktionen auslöste.

 

Todesopfer rechter Gewalt 1990‒1995

Zwischen 1990 und 2017 wurden mindestens 183 Menschen durch rechte Gewalttaten getötet, hunderte weitere wurden verletzt – weil sie eine andere Hautfarbe, Religion, Gesinnung, Kultur oder Ansicht hatten als die rechtsextremen Täter. Die meisten Toten und Verletzten kennt heute kaum jemand, viele Taten wurden in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Bis heute kommt es zu Anschlägen und Morden aufgrund von rassistischen Ansichten. Eine Liste mit Opfern rechter Gewalt findet sich auf der Seite der Amadeu Antonio Stiftung.

Teilnehmende einer Lichterkette gegen Rassismus stehen am 25. Dezember 1992 mit brennenden Kerzen vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Mindestens 200.000 Menschen versammelten sich in Berlin, bildeten eine lange Lichterkette und demonstrierten gegen Rassismus, Rechtsradikalismus und Gewalt gegen Ausländer*innen. Auch in anderen Städten Deutschlands kam es zu solchen Protestaktionen (400.000 in München, 250.000 in Hamburg, 300.000 in Essen, 100.000 in Nürnberg). (akg-images / picture-alliance / dpa)

Gegen rechts! – Demonstrationen gegen rechtsextreme Ausschreitungen

Die gewalttätigen Ausschreitungen und die Todesopfer rechter Gewalt lösten bei vielen Menschen Entsetzen aus. Viele waren schockiert, aber auch verängstigt von dem öffentlich kommunizierten und zur Schau gestellten Rassismus. Zahlreiche Organisationen, Vereine oder Privatpersonen organisierten Demonstrationen gegen die rassistische und rechte Gewalt, bei denen zehntausende Menschen mitmachten. In vielen Städten bekundeten Menschen mit menschlichen Lichterketten ihre Solidarität mit Ausländer*innen, Eingewanderten und deren Nachkommen. Konzerte und Bürgerinitativen forderten von der Politik ein stärkeres Eingreifen gegen rechtsextreme Gewalt und Einstellungen. Im Zuge dessen verstärkt der Bundesverfassungsschutz seine Beobachtung der rechtsradikalen Szene und es kommt zu mehreren Verbotsverfahren gegen rechtsextreme Gruppierungen.

Auch heute noch gedenken viele Menschen den schrecklichen Ereignissen zu Beginn der 1990er Jahre. Die damaligen rassistischen Anschläge waren jedoch keine Ausnahme. Immer wieder kam es seitdem zu rechtsextremen oder rassistischen Anschlägen und Morden in Deutschland. Ein Demonstrant hält ein Schild hoch, auf dem einige davon zu lesen sind: „Hanau, Halle, Kassel, Mölln“. (imago images / IPON)

Die Asyldebatte und rassistische Ausschreitungen

Parallel zum Prozess der Wiedervereinigung fand in der Bundesrepublik auch eine rege „Debatte über das Recht auf Asyl“ statt. Diese wird seit den 1970er-Jahren geführt. Im Zuge des Zusammenbruchs des Ostblocks und der Kriegsflüchtlinge der „Jugoslawienkriege“ stieg um 1990 jedoch die Anzahl der Asylanträge. Begleitet wurde die Asyldebatte von einer Welle rassistisch motivierter Gewalttaten. Als Reaktion darauf häuften sich Aussagen, die den Ausbruch von Gewalt mit der hohen Anzahl von Asylbewerber*innen erklärten und nicht mit dem Rassismus in der Gesellschaft. Asylbewerber*innen wurden als „Wirtschaftsflüchtlinge“ dargestellt, die „Asylbetrug“ begingen. Der Grund ihrer Einwanderung sei nicht eine politische Verfolgung, sondern wirtschaftliche Not. Einige rechtsextreme Parteien konnten hohe Wahlergebnisse erzielen. Viele Migrantenverbände und politisch linke Gruppen verurteilten den teils offen formulierten Rassismus im Zuge der Asyldebatte. Im Mai 1993 wurde schließlich der sogenannte Asylkompromiss mit einer Zweidrittelmehrheit vom Bundestag beschlossen.

Asyldebatte

Die sogenannte Asyldebatte war eine politische Auseinandersetzung um eine Änderung des Grundrechts auf politisches Asyl in der Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesregierung versuchte zunächst, durch abschreckende Maßnahmen die Anzahl der Asylbewerber*innen zu reduzieren. Die Einführung des Arbeitsverbots für Asylbewerber*innen, gekürzte Sozialhilfe und die Einschränkung der Freizügigkeit gehörten dazu. 1993 wurde eine Asylrechtsänderung beschlossen: Künftig konnte niemand mehr Asyl beantragen, der oder die über ein sicheres Nachbarland oder einen sicheren Herkunftsstaat einreiste. Nach 1993 sank die Anzahl der Asylbewerber*innen damit auf mehr als die Hälfte und die Debatte entschärfte sich.

Jugoslawienkriege

Ab 1991 herrschten in Jugoslawien mehrere Kriege, die zum Zerfall des Staatenbundes und zur Bildung sieben neuer Staaten führten. In den Kriegen kam es zu Massakern und systematischen Vertreibungen, zehntausende Menschen starben. Die Jugoslawienkriege lösten zudem Migrations- und Fluchtbewegungen aus, die zu einem starken Anstieg der Asylbewerberzahlen führen.

Plakat der CDU zur Bürgerschaftswahl in Bremen 1991. (CDU, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons.)

Untergangsmetaphern dominieren die Öffentlichkeit

Die öffentliche Debatte über das geltende Asylrecht wurde oft falsch dargestellt. In Teilen der deutschen Medien und der Öffentlichkeit wurden Asylbewerber*innen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ dargestellt, die „Asylbetrug“ begingen. Der Grund ihrer Einwanderung sei nicht eine politische Verfolgung, sondern die Flucht aus der Armut. Einige Parteien wie die „Republikaner“, die sich mit dem Slogan „Das Boot ist voll!“ Aufmerksamkeit verschafften, heizten die Diskussion weiter an.

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„Das deutsche Boot vor dem Untergang war das negative Pendant zum Bild vom millionsten Gastarbeiter am Kölner Bahnhof, der den wirtschaftlichen (Wieder-)Aufstieg symbolisiert hatte. Im Laufe dieser Diskursverschiebung verwandelte sich der Begriff „Asylant“ von einem Behördenterminus zu einem zornerfüllten Schimpfwort, zum Synonym für Schmarotzer.“

(Quelle: Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina, Maik Tändler. „Zur Rechten Zeit: Wider die Rückkehr des Nationalismus.“ (Berlin: Ullstein Verlag, 2019), S. 167-168.)

„Das geht gegen uns.“

Der Journalist Deniz Yücel, dessen Eltern als Gastarbeitende nach Deutschland gekommen waren, erinnert an die Asyldebatte vor dem Hintergrund der wachsenden rechtsradikalen Gewalt und des WM-Fiebers im Jahr 1990.

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„1988/89 zogen Rechtsextremisten in Landesparlamente ein. 1989, zum Fall der Mauer, tauchten in unserer Nachbarschaft deutsche Fahnen auf, die sich bis zur Fußball-WM im Sommer rasch vermehrten. „Das geht gegen uns“, sagte meine Mutter. Tatsächlich kam es so, wie es mit ihr viele Einwanderer befürchtet hatten: Im Sommer 1990 zettelte die CDU eine Kampagne gegen „Scheinasylanten“ an, der sich die meisten Medien, allen voran Bild und Spiegel, anschlossen. Die Neonazis, die in Hoyerswerda oder Rostock nahezu unbehelligt von der Polizei zu Werke gingen, hatten allen Grund dazu, sich als Vollzugsorgan des „Volkswillens“ zu fühlen. Und nicht obwohl, sondern weil im August 1992 etliche biedere Mecklenburger beim Einschlagen der Brandflaschen „Zugabe“ gerufen hatten, beschloss der SPD-Vorstand, der faktischen Abschaffung des Asylrechts zuzustimmen.“

(Quelle: https://taz.de/Lebensgefuehl-von-Einwandererkindern/!5186897/ [letzter Zugriff: 28.10.2020])

Auf einmal „Ausländer“?

Deutschland nach 1990

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